September-Kolumne

1. September 2021

Wahlen 2021 für Bund und Berlin

Dämonen der Mittelmäßigkeit

Die Wahlen stehen kurz bevor. Vielleicht lohnt es sich dieses Mal, ein wenig nachzudenken. Es ist zwar allgemein bekannt, dass Wahlversprechen in den seltensten Fällen eingehalten werden. Überlegen wir aber, was „allgemeine Wahlen“ eigentlich bedeuten: Die Allgemeinheit wählt für ihre allgemeinen Belange den Bundestag. Dieser hat, nebenbei erwähnt, das Maximum an Abgeordneten aller Zeiten erreicht. Er ist mit der Zahl seiner Abgeordneten nach China weltweit die personelle Nummer 2. Im Widerspruch dazu stehen die Fakten, nämlich dass der politische Spielraum der gewählten Regierung ein eng begrenztes Feld ist: finanziell von Haus aus, außer Haus durch das EU-Recht abgesteckt und geopolitisch auf die Grenzen des Schattens der USA vergattert. Das gilt für alle Farbkonstellationen von schwarz, grün, rot und rosarot bis gelb – und selbst für blau. Kann man sich deshalb den Gang zur Urne sparen und warten, wie Otto Normalverbrauchswähler entscheiden wird? Keine Partei in Berlin wird Alleinherrscherin werden; die Wahlprogramme werden deshalb reine Verhandlungsmasse unter den Parteibrüdern sein und in verwässerten Kompromissen aufgehen.

Das touristische Farbkarussell der Wahlen 2021

Jede Partei hält ihr Wahlprogramm für das Beste. Die einzelnen Punkte seien unverzichtbar für die Zukunft Berlins nach Vorstellung ihrer politisch bestimmten Listenrepräsentanten. Im Detail betrachtet können aber Kollateralschäden entstehen. Aufwendig umgebaute Elektrobusse kommen vielleicht nicht mehr bis Berlin, die Trabbi-Safari könnte ihre Gefährte zu Fahrrädern umbauen müssen. Ein verkehrsberuhigter Kudamm mit drei Metern Abstandsgebot hat nicht mehr die international beliebte Atmosphäre einer Metropole. Damit beginnt das Interesse der steuerzahlenden Unternehmenden und ihrer Teams am Personenkreis, der sich diesmal wählen lassen will. Schauen wir uns als Unternehmer im Bereich Touristik und Hospitalität an, was die Wahlprogramme für den Berliner Tourismus aussagen. Wir beginnen ganz links:

Links für Arbeitsschutz als Tourismusschwerpunkt

Wir setzen uns dafür ein, dass bei der Tourismusförderung auch gute Arbeitsbedingungen als Kriterium berücksichtigt werden …“ Der Tourist wird ein wenig in unsere Arbeitskämpfe miteinbezogen. Ein gewisses Museum sollte deshalb nicht besucht werden, weil die Aufseher acht Stunden bei nur 15 Minuten Mittagspause durcharbeiten müssen. Egal, was das Museum zeigt, der Tourist soll in ein Museum gehen, das nur sechs Stunden geöffnet ist. Neben der Liste der Eintrittspreise muss der Direktor künftig auch die Lohnlisten aushängen, damit der Tourist erkennt, was für eine Art von Zuchthaus er betritt – insbesondere bei den Kleinstbetrieben, wo die Arbeitsbedingungen besonders schlecht sein sollen.

Und natürlich bedarf es für die Linke eines Tourismus ohne Begleiterscheinungen. Was sind Begleiterscheinungen?

„Begleiterscheinungen sind vor allem die Innenstadtbezirke stark belastende Bier-Bikes und Reisebusse auf den Straßen, Rollkoffer- und Partylärm, Verdrängung von Geschäften und Gewerbe in gewachsenen Kiezen durch auf den Tourismus ausgerichtete gewerbliche Monostrukturen sowie Verlust von Wohnraum durch Anbieter wie Airbnb.“

Oh je: Rollkofferlärm! Der Tourist muss seinen Koffer tragen, weil Berlins Pflaster nicht schallgedämpft sind. Oder er übernachtet in Bahnhofsnähe. Ab nach Wannsee und Zehlendorf mit dem Reisevölkchen. Die Partei hat angeblich bereits „gemeinsam mit den Bezirken, mit betroffenen Anwohner:innen sowie mit der Tourismuswirtschaft das Tourismuskonzept 2018+ entwickelt, fortgeschrieben und weiterentwickelt“.

Im Gegensatz zum Privattourismus will man den beruflichen Besuch von Berlin fördern und wiederbeleben.

Wem das zu links ist, der kann das auch in Grün haben, denn hier wird mehr auf den Privattourismus gesetzt:

Grün reguliert und lenkt den Touristen ins touristische Abseits:

Clublandschaften, die Museen und Galerien, die Flaniermeilen und Flohmärkte sowie das gastronomische und kulturelle Angebot dürfen bleiben, „doch ein ‘Weiter so‘ wie bisher kann es in Berlin nicht geben. Ökologische Hotels müssen stärker unterstützt werden. Tourismus bemessen wir nicht anhand von immer höheren Besucherrekorden, sondern bedeutet für uns auch eine aktive Stadtentwicklungspolitik, die lenkt und gestaltet.

Heißt das, der Besucher soll in Berlin wohnen bleiben? Gut, immerhin keine Abschiebungen von Touristen. Aber lässt sich jeder Tourist in das zwangserrichtete Umwelt-Hotel in Berlin-Lichtenrade abwerben? Mit diesem Gedanken könnte es Ingolstadt gelingen, durch hippe Neubaubüros Start-ups von München und Berlin in die oberbayerische Provinz zu holen. Jedenfalls muss man künftig wohl nachweisen, sich vier Stunden in Randbezirken aufgehalten zu haben, um eine Stunde ins Stadtzentrum zu dürfen.

SPD mit Verständnisproblemen

Wir nähern uns endlich der Mitte: zunächst die Mitte links, die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD). Sie hat einen Widerspruch entdeckt zwischen Tourismusförderung und Erhalt der Weltoffenheit. Denn „aufgrund der Corona-Pandemie konnten nur wenige Menschen aus anderen Ländern und Kontinenten unsere Stadt besuchen“; sie, die „Sozis“, wollen Berlin wieder zum Magneten für Menschen aus ganz Deutschland, aus Europa und der Welt machen. Corona und Tourismus? Wird besser nicht erläutert, denn dem steht das eigene Gesundheitsprogramm im Wege. Die Partei führt etwas unlogisch und in schlechtem Deutsch aus, eine breite Werbekampagne für Berlin starten zu wollen. Logischerweise müsse sich die „Akzeptanzkampagne“ gezielt an die Einheimischen (Berliner) richten und könne die Nicht-Berliner Gäste kaum berühren. Vielleicht meint die gute alte Tante SPD aber auch, sie wolle Berlin für die Welt akzeptabel machen, womit wir eher bei der allgemeinen Politik wären, die nach dem Austritt Englands aus der EU, nach der Distanzierung von den USA und nach dem Schlingern der deutsch-französischen Achse inzwischen vonnöten sein könnte.

Aber man tut den Sozis Unrecht. Ganz konkret planen sie, den Flughafen Willy Brandt (BER) weiter (zu) ertüchtigen und für (s)eine noch bessere Anbindung an die Stadt durch den Ausbau der U 7 (zu) arbeiten. Das internationale Langstreckenangebot vom und zum BER wollen die Sozis erweitern, auch um zusätzliche innerdeutsche Kurzstreckenflüge – etwa von Messe- oder Veranstaltungsbesuchern und internationalen Touristen – zu minimieren.

Das versteht man nun, pragmatisch gesehen, gar nicht. Was hat die Erweiterung des Langstreckenangebots mit der Minimierung innerdeutscher Kurzstreckenflüge zu tun? Das ist politische Lyrik. Man könnte diese in dem Sinn verstehen, dass man von Hannover aus erst nach New York fliegen soll und von dort als Ferntourist in der Bundeshauptstadt landen darf?

Der Rest ist Werbung, Werbung, Werbung, auch für eine dezentrale Kulturszene, was immer das heißen mag. Aber hier wird die ganz alte Kundschaft von Tante SPD angesprochen, die man natürlich nicht vergessen hat.

Liberale Freiheit mit Polizeikontrolle und regulierten Kritzelwänden

Die liberalen Herrschaften namens FDP identifizieren Freiheit mit Berlin (das war vor 30 Jahren aktuell). Wie „Karlsruhe“ den Begriff von „Recht“ lokalisiert, soll Berlin Locus Libertatis werden. Man will dazu erlebnisbasierte Bereiche schaffen und gleichzeitig Polizei und Ordnungshüter darüber wachen lassen! Also Freiheit mit Polizeipräsenz? Natürlich nicht zur Überwachung der Freiheit, sondern ausschließlich zu deren Schutz. Außerdem sollen Gedenktafeln über QR-Codes übersetzt angeboten werden. Offenbar hat die FDP digitale Ideen verpasst, denn Übersetzungen sind bereits online erhältlich und Touristen bewegen sich mit mobilen Endgeräten, die das existierende Netz unserer Mobilfunkbetreiber nutzen. Oder anders ausgedrückt: Hätten sie geschwiegen, wären sie Wirtschaftsweise geblieben. Problem wird hier werden, dass alle Menschen die Informationen auch in einer Art „Home-Tourismus“ abrufen können. Der Rest des freiheitlichen Tourismusprogramms ist dann eher Kunst und Kultur.

CDU ohne Orientierung

Endlich kommen wir nun zu den Leuten, denen wir seit 16 Jahren den gegenwärtigen Ist-Zustand der Gesamtlage verdanken. Es geht bei der CDU in erster Linie um „Bundes-Wahlen“, so dass das Geplänkel auf Landesebene eine untergeordnete Rolle spielt, auch wenn die Rot-Rot-Grünen mit ihren Radwegen und Fußgängerzonen Fakten schaffen. Was also plant die Christlich Demokratische Union (CDU) von ganz weit oben her? Es ist:

die Verbesserung des touristischen Busverkehrs!

Sehr gut. Damit kommt sie den Flug- und U-Bahn-Ideen der langjährigen Partner nicht in die Quere. „Quer-Denken“ wäre nämlich verpönt.

Es soll ein neues Reisebuskonzept geschaffen werden (leider und wahrscheinlich erst für 2050). Es heißt:

Wir wollen einen weiteren ZOB-Standort (Zentraler Omnibusbahnhof) in den östlichen Bezirken realisieren und nehmen dafür den Standort am Ostkreuz in den Blick“.

Das Ostkreuz markiert doch nur das östliche Ende von Berlin-Mitte, erst dahinter beginnen die Weiten des Berliner Ostens! Da haben die West-Berliner offenbar den Osten noch immer nicht verstanden und schon gar nicht den zentral denkenden Berlin-Besucher. Ein solcher ZOB dürfte nicht näher an die City heranrücken als vielleicht zur ehemaligen Stasi-Zentrale.

Interessant werden die Ideen auch für die Getränkebranche, die Spätis, Lehmanns, Hoffmanns und Pennys:

„500 neue Trinkbrunnen“, möglichst gerecht über die Berliner Bezirke verteilt,

will die CDU aufstellen. Berlin soll also eine Art Mekka für Zwangsgeräumte werden. Aber nur an Gänsewein wird gedacht. Einfach gerechnet käme fast jeder Bezirk auf 50 Trinkbrunnen. Das heißt, wenn man es richtig versteht, dass die CDU eher an Sommertourismus denkt: ein Affront gegen „Malle“. Im Winter könnten diese Brunnen glattweg einfrieren.

Rettet uns die AfD? Aktiv jedenfalls nicht. Bei der AfD kommt das Wort Tourismus im ganzen Programm nicht vor. Man muss also weiter in die Vergangenheit zurückreisen. Denkmäler der angeblichen Schande sollen ohnehin nicht besucht werden.

So also ist es: Viel Lärm um nichts. Niemand denkt an den Plänterwald oder an die Uferpromenaden der Spree. Tagesfahrten zum Schiffshebewerk Niederfinow sind auch kein Ding, obwohl dies staatlich begünstigt werden müsste. Die Politik weiß nichts vom wirklichen Leben, sondern lebt saturiert in ihrer Großstadtblase. Das wird diese Wahl vielleicht deutlicher belegen, als man es belegt haben möchte.

Alphabet des Versagens der politischen Führung

Wer hat sich einmal angesehen, wie viele unserer amtierenden Minister und Senatoren in ihrem Führungsberuf durch eine Ausbildung qualifiziert sind? Jeder Handwerksmeister muss einen Kurs zur Betriebsführung absolvieren, bei der Bundeswehr gibt es Feldwebellehrgänge, die „Police-Academie“ bringt ihren Chefs etwas bei. Wie viele unserer politischen Führungsmenschen, die die unter ihnen arbeitenden Bürokraten anleiten sollen, haben sich zuvor Kompetenzen durch Berufserfahrung aneignen können? Es sind kaum 20 Prozent!

Das ist exakt das zweite Dilemma unserer Politik. Qualität und Kompetenz sind so spärlich vertreten, dass weder die Umsetzungsproblematik noch das inhaltliche Verständnis von Versprechen mit der Realität zusammenpassen. Was will man also von unseren Politiker*Innen in Sachen Afghanistan, Bildung, Corona, Digitalisierung, Energiewende usw. erwarten? Es ist eigentlich wie bei Google: man findet auf der ersten Seite eine Informationsflut, ist davon bereits überwältigt und begnügt sich dann mit der Mittelmäßigkeit. Warum sollte also der Staat, der von minderqualifiziertem Personal geführt wird, Menschen, die selbst arbeiten müssen, erklären können, wie das Leben außerhalb der Ämter und Behörden funktioniert?

Bei bis zu 250.000 Menschen in Berlin, die von Hotellerie, Gastronomie und Veranstaltungen leben, hätte Berlin eigentlich einen Senatoren*innen-Posten allein für den Tourismus verdient. Die Wahlprogramme der Parteien richten sich mit ihren diffusen Begriffen nicht an die 250.00 Hoteliers, Gastronomen, Museumsbetreiber, Spree-Reeder und all deren Mitarbeiter, sondern an den Wähler, dem der Tourismus sogar lästig erscheint.

„Stadt der Freiheit“ soll für alle das Markenzeichen sein. Heißt es auch „Freiheit vom Tourismus“? Eines dürfte inzwischen jedoch klar geworden sein: das Tourismuskonzept 2018+ hat sich wegen der Pandemie als lächerliche Konzeption offenbart. Besucher lassen sich am Abreiseort nicht sortieren, Hotels in Außenbezirken führen nicht zu neuen Besucherströmen und die Parole „weg vom Zentrum“ interessiert den Besucher, der das Schloss (Humboldt Forum) im Zentrum sehen will, nicht. Die Auswertung schlafender Touristen als Rechtfertigung der Unzufriedenheit der sich bewegenden Touristen zu nutzen, ist schon nach Regeln statistischer Auswertung ein Unding. Der Glaube, dass Touristen verantwortlich für die Verschmutzung von Parks seien, ist albern.

Wirklichkeit und Natur als Feinde

Die Politik hatte schon immer große Schwierigkeiten mit ihren Feindbildern: Es sind die Realität und die Naturgesetze. Man erinnere sich an den Wahnsinn der Baupreissteigerung der letzten zehn Jahre und die damit verbundenen Mietsteigerungen. Woher kommen solche Ergebnisse? Wenn man ständig regulierend und fordernd eingreift, wenn man die Anforderungen an das Bauen steigert (dickere Styroporfassade, Zwangsentlüftungen durch Fenster, Dreifachverglasungen, digitaler Funk etc.) und außerdem noch langsame Behördenabläufe hinnimmt, dann steigen die Baukosten. Irgendjemand muss dafür bezahlen: das ist der sozial meist schwächere Mieter. Dass Bund und Land – gehupft wie gesprungen – unfähig sind, auf eigenem Boden sozialverträglich und als Bauherren zu bauen: kein Wunder. Noch nicht einmal sichere Fahrradspuren wurden in den letzten fünf Jahren geschaffen. Corona hat auch im Tourismus gezeigt, dass es wohl besser sein könnte, den Touristen natürlicherweise in unsere Stadt zu lassen, als Geldscheine zur Finanzierung des Stillstands zu drucken, das unsere Kinder zurückzahlen müssen.

Klein-Klein statt Konzept

Vielleicht lässt sich der Tourist von der „ersten Klimastraße Berlins“, wie die dortige Bezirksbürgermeisterin seinerzeit die von der Sonne abgeschnittene und 50 Meter kurze Danneckerstraße in Friedrichshain genannt hat, anziehen. Das Bereitstellen von Graffiti-Flächen für Street-Art-Künstler ist ebenso bescheiden gedacht wie diese sogenannte Klimastraße. Welcher Besucher soll das denn feiern? Wann waren die Herrschaften zuletzt in Städten wie Taipeh, Singapur, London oder neuerdings in Kiew? Da geht es um ganze Stadtviertel, nicht um Hausflächen. Die Staatskunst, wie wir sie aktuell in dieser Stadt sehen, auf höheres Niveau zu heben, wäre ein guter Ansatz, die Stadt der Freiheit wiederzubeleben.

Freiheit für die wirklichen Gestalter dieser Stadt

Lasst Menschen aus allen Ländern Ideen austauschen und diese Ideen unbürokratisch umsetzen. Berlin braucht keine Politiker, die meinen, Menschen vorgeben zu müssen, was richtig oder falsch ist, als hätten sie noch weniger Bildung als die Politiker. Die Menschen sind nicht vollends verblödet oder debil. Die meisten Macher haben gelernt oder durch Erfahrung lernen müssen, das einzuschätzen, was sie gerade tun. Politiker beherrschen das in aller Regel nicht.

Wen wählt also der Hotelier, der Betreiber einer Sehenswürdigkeit oder der Gastronom am besten in Zeiten der Mittelmäßigkeit? Warum kommt ein Tourist nach Berlin? Weil er dort findet, was er in seiner Kleinstadt, im ordentlichen Zürich oder im teuren London nicht findet. Vielleicht versteht das irgendwann auch der Politiker. Bei den bisherigen Programmen weiß der Tourist nicht, welche Gaudi in Berlin auf ihn wartet. Es ist nämlich keine.


Über den Autor: 

Quirin Graf Adelmann v.A. ist Geschäftsführender Gesellschafter der
Muson GmbH und Mitglied im INTOURA e.V.