Meinung
Q. Graf Adelmann
Reisen im deutschen Schienennetz
„Senk ju for träwelling wis deutsche Bahn!”
8 Milliarden Menschen auf diesem Planeten zu bewegen, ist und bleibt eine Herausforderung. Alle wollen gleichgestellt sein, am Konsum teilnehmen, andere Länder besuchen und vor allem essen und trinken. Was in Niedersachsen noch völlig unbekannt ist, ist für Autofahrer in Berlin eine lästige Erscheinung: die so genannte „Letzte Generation“ klebt sich bekanntermaßen an Straßenkreuzungen und Autobahnbrücken, um sowohl den leistenden Menschen im Automobil als auch den Urlauber an der freien Straßennutzung zu hindern. Neuerdings sollen Blockadekolonnen auf Autobahnen ein Tempolimit erzwingen. Derweil startet der Berliner Senat einen neuen (wohl rechtswidrigen) Versuch, eine gesetzlich autogewidmete Straße mit untergeordneten Verkehrsschildern zur Fahrradstraße umzufunktionieren: die Charlottenstraße in Mitte.
Diesem Planeten wird es egal sein – immerhin hat er bereits Meteoriteneinschläge, Eiszeiten und Millionen von Jahren auch ohne den Menschen überlebt. Das nächste schwarze Loch ist nur 1.000 Lichtjahre entfernt. Mindestens 300 Millionen bewohnbare Exoplaneten soll es in der Milchstraße geben. Werden sie den Planeten Erde oder den Menschen vermissen? Im durchdachtesten universellen Mikromanagement würden sich die eifrigsten Gläubigen zum Schutze des winzigen Moments des Kleinstplaneten Erde wenigstens in Fortpflanzungsstops üben. So konsequent wollen die Herrschaften dann wohl doch nicht sein. Es gilt aber: will und muss der Mensch etwas verändern, bedarf es der Sicht- und Spürbarkeit.
Fahrzeuge mit Elektromotor (16.600 in Berlin) dürften wohl kaum die Bewegungszukunft bedeuten. Zunächst einmal müsste die Rohstoffbeschaffung von seltenen Erden in geeigneten Regionen des Planeten Erde umweltfreundlich erfolgen und eine systemische Annäherung an autokrate Staaten toleriert werden. Die Entsorgung oder Wiederverwertung von ätzenden und brennbaren Batterien müsste es ebenso. Rein rechnerisch sind mehr als 1,2 Millionen mit fossilen Kraftstoffen betriebene Fahrzeuge allein in Berlin durch E-Autos zu ersetzen: Bei Letzterem dürfte entweder in Ermangelung entsprechender Ladesäulen der Bewegungsstillstand eintreten oder Berlin durch die Ladehitze um 4 Grad erwärmt werden. Eine andere Lösung wäre, Stadtwege nur noch mit der Bahn zu überbrücken. Dazu wiederum bräuchte es zuallererst eine funktionierende und motivierende Bahn-Infrastruktur. Kann das mit einem Staat im Staat gelingen?
Ist die Bahn eine Alternative zum Auto? Heute kommen bis zu 40% aller Züge zu spät am Ziel an. Gefühlt funktioniert bei jeder zweiten Zugfahrt irgendetwas nicht wie vorhergesehen und versprochen. Im Sommer fallen die Klimaanlagen aus, im Winter die Heizungen und stabiles Internet an Bord suchen Reisende vergebens. Die derzeit explodierende Mitarbeiterzahl bei gleichzeitig jahrzehntelang reduziertem Streckennetz hat die Zuverlässigkeit der Bahn nicht verbessert. Wie bei der Deutschen Herren-Fußballnationalmannschaft ist auch bei der Deutschen Bahn die Leistungsbereitschaft der Menschen auf ein Minimum gesunken. Innerhalb des Staatskonzerns sind die Entscheidungsprozesse derart komplex, dass niemand irgendetwas entscheiden will. So kommt es, dass tausende ehemalige Bahnhöfe ungenutzt sind und hunderte Bahnbögen in Berlin auch dann leer stehen, wenn es Interessenten für die Nutzung gäbe. Innerhalb von Berlin verkommen bereits existierende Bahnhöfe. Die Hälfte aller Fahrstühle, die dafür sorgen sollen, dass körperlich Beeinträchtigte oder Eltern mit Kindern einfach zu den Gleisen gelangen, sind defekt. Am Platz der Luftbrücke existiert schon gar kein Fahrstuhl, über dessen Ausfall sich der Fahrgast beschweren könnte. Es empfiehlt sich die Weiterfahrt zur nächsten Station, um dann zu Fuß zum eigentlichen Fahrziel zurückzurollen.
Würde Deutschland in die Bahn mit Kompetenz und Geld investieren, gäbe es zweifellos eine Abwanderung von Flugzeug und Auto. Seit Eröffnung der Schnellfahrstrecke München-Berlin beispielsweise nutzen 4,5 Millionen Reisende jährlich den ICE und haben so 2,2 Millionen Reisende aus dem Flugzeug und Auto hin zur Bahn bewegt. Gleiches könnte sich auch innerhalb Berlins auftun. Reisende aus Europa oder Asien halten den Erwerb eines Bahn-Tickets für selbstverständlich. Umgekehrt nutzen auch Urlauber aus Deutschland den ÖPNV in den jeweiligen Großstädten. So könnte Berlin jedem Besucher über die Welcome Card von visitBerlin beispielsweise verpflichtend ein Bahnticket anstelle der City Tax mitgeben. Die ohnehin nicht allein für den Tourismus eingesetzten City-Tax-Mittel können gestrichen werden. Stattdessen gäbe es Einnahmen direkt für BVG (Land Berlin, U-Bahn, Tram und Bus) und Deutsche Bahn (Bund, S-Bahn), mit denen zusätzlich partiell Tourismus-Maßnahmen möglich würden. Die Stadt könnte so außerdem konkret auswerten, wo, wann und wie sich die Besucher bewegen, anstatt wie bisher Gästebefragungen am Schlafplatz durchzuführen und Rückschlüsse hieraus für deren Bewegung zu erfinden, um sich daraus wiederum politische Nonsens-Konzepte zu basteln. Ist die Berliner Bahnhofsrealität dafür geeignet und einladend?
Johann Lukas Schönlein war ein bekannter Tuberkulose-Forscher. Nach ihm ist einer der 175 Berliner U-Bahnhöfe im Jahr 1927 benannt worden: „Schönleinstraße“. Tuberkulose scheint auch die Motivation des dortigen neuen Impf(?)-Zentrums zu sein. Jedenfalls sammeln sich im Bahnhof „offenbar impfwillige Menschen in Massen und jagen sich Spritzen in die Arme, die sie sogleich mit Urin desinfizieren und liegen lassen, damit sie nachhaltig wiederverwertet werden können“. Vielleicht muss man die Camps der Drogensüchtigen dort bzw. die unterlassene Reinigung der Kreuzberger Station als Aufforderung der Politik verstehen, gesamtkonzeptionell nur oberirdisch einen Fahrradweg zwischen Kottbusser Damm und dem autofreien Gräfekiez zur Charlottenstraße einzufordern, weil es unterirdisch eben unterirdisch zugeht. Oder aber Berlin will aus dem Stadtzentrum vergleichbar mit Teilen Nairobis eine so genannte „Zombie-City“ schaffen, in der alle Obdachlosen irgendwann vergleichbar gestört herumlaufen wie heute in San Francisco und New York. Nach amerikanischem Vorbild befreien sich ganze Straßenzüge von Einzelhandel und Cafés, weil Menschen auf der Straße schießen und scheißen. Dann bliebe jedermann und jedefrau daheim im Online-Universum.
In Berlin speziell sieht die neue Welt, warum die alten Welten Europa und die USA verkommend der Vergangenheit angehören. Die Infrastruktur ist marode (so brechen Wasserleitungen wie unter der Köpenicker Landstraße ein), die Verwaltung ist lahmgelegt, die Sozialmoral ist unter jedem Niveau, jedweder Unternehmergeist wird behördlich abgewürgt und neue Ideen sind hier nur neu geschaffene Mittelalter-Religionen ohne Innovationspower. Man stelle sich das immense entfesselte Potential der Neuen Welt vor, sobald ein Land wie beispielsweise Saudi-Arabien seine blockierende Monarchie, seine diskriminierende Menschenordnung und veraltete Religionsauslegung überwindet. Technisch und digital ist Europa längst überholt. Da wird in Berlin im Rahmen einer Bürgerteilhabe noch über einen weiteren Kilometer Fahrradweg nachgedacht und die Treptower Elsenbrücke dürfte dann nach wie vor nicht erneuert worden sein. Mikroverbesserungen dauern in Berlin Jahrzehnte, Gesamtkonzepte können die Bürger nicht schadlos Mikro-Ideologie-Managern ohne Realitätserfahrung überlassen.
Zurück zur Bestandsbahn.
Die längste unterirdische Bahn mit ihren knapp 32 km Strecke und 40 Stationen zwischen Spandau und Rudow ist die U7. Die Gesamtfahrzeit auf dieser Strecke beträgt nur 56 Minuten – also empfehlenswert für alle Abgeordneten von Bund und Land, will man erfahren, in welcher Parallelgesellschaft diese selbst leben. Konzeptionell wollen wir die sozialen Schichten natürlich durchmischen. Warum auch sollte es Zugangsbeschränkungen vergleichbar mit London, Paris, Tokio oder Taipeh geben? Berlin ist offen. In dieser einen Stunde sieht man, wohin unsere Gesellschaft gerade abrutscht. Es nutzt nichts, statistisch zu wissen, dass 25% der Bevölkerung an der Überlebenswasserlinie Einkommen beziehen: Politik und Verwaltung müssen es sehen, riechen und fühlen! Die Stadtbesucher werden hierzu schließlich auch gedrängt. An einem Nachmittag werktags gegen 14.00 Uhr sitzt ein zahlender Fahrgast in der Bahn. Gegenüber ein Speed-Nutzer, der sein Plastikbeutelchen gerade auf den dreckigen Boden hat fallen lassen und nun die weißen Körnchen mit angelecktem Zeigefinger einsammelt und sogleich seinem Blutkreislauf über die Zunge zuführt. Drei jugendliche Afghanen machen sich lustig über die Transfrau gegenüber, der Flaschensammler fährt auch mit und riecht, wie eben Menschen riechen, wenn sie sich monatelang nicht duschen und nur einen Satz Textilien haben. Nach zwei Jahren Corona-Politik sind die Menschen aggressiv aufgeladen und weniger tolerant. Zwangsgebühren zahlt hier auch niemand mehr ohne festen Wohnsitz und Einkommen oberhalb der Wasserlinie, so dass die Finanzierung der pädagogischen Reichweite von rbb und anderen öffentlich-rechtlichen Medien in Gefahr gerät. Armutsbekämpfung erfolgt nicht durch Gelddruck, sondern ausschließlich durch Investition in Bildung und Infrastruktur.
Aber konzentrieren wir uns auf die Aushängeschilder Berlins. So beispielsweise auf den Friedrichshainer Ostbahnhof. Jener seit 1998 so benannte Bahnhof ist ein beliebter Stopp für Besucher. Weil im Zug Toiletten oft geschlossen sind, könnten Reisewillige denken, dass solche am Bahnhof verfügbar seien. Immerhin steigen hier täglich 100.000 Reisende ein oder um. Weit gefehlt: die Toiletten des Ostbahnhofs sind in der Regel verschlossen. Damit der Mensch dennoch möglichst innerhalb des Bahnhofs pinkeln geht, hat der Bezirk gegenüber auf dem Mittelstreifen des Stralauer Platzes zur Verhinderung von Obdachlosen-Camps gleich einen hohen Zaun gestellt und die Fläche zu einem Hundeauslaufplatz umdeklariert. Kein Hundehalter verirrt sich dort. Die Obdachlosen bleiben so innerhalb des Bahnhofsgeländes.
Wer allerdings vom Hauptbahnhof Bremen angereist ist, wird die Situation kennen. Die einhellige Meinung vieler Besucher lautet „nie wieder Deutsche Bahn!“. Die Begründung hierfür kommt allerdings weder durch Mitreisende noch durch fehlende Infrastruktur zustande: die „asozialen und unhöflichen Mitarbeiter“ der Deutschen Bahn sind genannter Hauptgrund. Hier empfiehlt sich ein Jobwechsel hin zur Friedhofsgärtnerei ohne Menschenkontakt. Die Polizei reagiert schon gar nicht mehr auf Diebstähle. Man müsse als Besucher schließlich wissen, dass die alkoholisierten Diebeshorden am Bahnhof denen eines Slums ähnlich seien, um den es einen Bogen zu machen gelte.
Immerhin ist es in Bremen angesichts des 1847 eröffneten wunderschönen Gebäudes vom Anblick her besser als in oben genannten Haltestationen des Bahnhofs Kibera. Besuchen uns allerdings Menschen aus Kenia, fragen sie sich, ob sie nun in der Dritten Welt angekommen sind. Nichts erinnert an industriellen Glanz, wenn Reisende beispielsweise am Bahnhof Duisburg ankommen. An der so genannten Rheinschiene treffen sich bedeutende Eisenbahnverbindungen aus der Schweiz, den Niederlanden hin zu ganz Deutschland. Bereits vor mehr als 170 Jahren eröffnet, halten heute Panzertape-Klebestreifen die Glasscheiben im Foyer zusammen. Damit außer dem gratis Duschwasser von oben keine Bauteile die dortigen Besucher erschlagen, ist seit vielen Jahren ein Netz gespannt. Geschäfte haben längst geschlossen und organisatorisch kann man sich nicht über den Service beschweren: es gibt keinen.
Die größten Bahnhöfe Deutschlands sind übrigens Hamburg und Leipzig. Leipzig ist mit knapp 84.000 qm der flächenmäßig größte und Hamburg mit fast 550.000 Reisenden täglich der zahlenmäßig größte Bahnhof. In Leipzig kann man offline keine Tickets mehr kaufen. Die Toiletten sind kostenpflichtig und am späten Abend komplett verschlossen. Dann nämlich verwandelt sich der Bahnhof in die Auffangstation aller Wohnungslosen der Stadt. Der Bürger reist also besser nicht später als 18:00 Uhr ab oder an. Wenn der Besucher jedoch einen Euro für die Nutzung der Toiletten bei Tageslicht übrig hat, sind Seife und Toilettenpapier nach 12:00 Uhr mittags noch selten vorhanden. Diese werden offenbar nur beim Erstrundgang am Vormittag aufgefüllt. Sich über diese Fälle zu beschweren, bringt nichts – das Geld ist ja weg, Ansprechpartner sind nicht vorhanden und der Streitwert ist wohl zu gering.
In Hamburg sollten alle Bahn-Mitarbeiter beurlaubt werden. Sie schreien die Stadtbesucher in der Regel an. Das ist auch verständnisvoll, wenn täglich etwa 55.000 Besucher (10% der Reisenden in Deutschland sind schwerbehindert) nach der Möglichkeit fragen, wie sie die Etage vom Bahnsteig zur Straße schaffen sollen: sämtliche Fahrstühle funktionieren nur noch unregelmäßig. In der Wartezeit lässt sich auch in Hamburg eine Sozialstudie über die vielen Obdachlosen und Junkies durchführen. Die Deutsche Bahn ist immerhin ein 100%-iger Staatsbetrieb mit gut 2 Milliarden Euro Verlust pro Jahr und einem Leistungspensum, das unterdurchschnittlich im Vergleich mit anderen Staatsunternehmen performt: Bei mehr als 217.000 Mitarbeitenden allein in Deutschland (337.000 insgesamt) schafft es die Deutsche Bahn noch immer nicht, pünktlich anzukommen. Im geschäftlichen Cargo-Bereich beispielsweise kommen lediglich 67% der Züge pünktlich an. In Japan sind es 99,9%. Messbarkeit ist in Japan Grundlage dafür, ob ein Mitarbeiter an der richtigen Stelle sitzt. Bei der Bahn organisiert man dagegen Mitarbeiterkonferenzen mit 10.000 Teilnehmern und 70 TOPs – wohl zur gemeinsamen Gruppentherapie. Mitarbeiter sehen sich nur nicht mehr, weil sie sich inzwischen unkontrolliert im Homeoffice verstecken. Übrigens sind 20% der Belegschaft krankgemeldet. Schön, wenn man also doppelt und dreifach frei von Arbeit machen kann. Das nennt man heute „quiet quitting“.
Was gibt es Neues daheim? Nun, die Weihnachtsmärkte öffnen wieder und Kinderkarusell fahren kostet inzwischen 4 Euro – exkludiert also alle einkommensschwachen Familien. Derweil will Berlin neu wählen und Steuerzahler enteignen. Wie üblich verdoppeln sich die Kosten der staatlich gemanagten Bauten wie die LNG-Terminals von 3 auf 6 Milliarden Euro. Trotz der höchsten Steuereinnahmen aller Zeiten macht der Bund knapp 50 Milliarden Euro neue Schulden. Mit dem „KulturPass“ des Bundes werden die 18-jährigen nun in staatliche Erziehungsanstalten gelenkt, um sie erreichen. Vielleicht ist es an der Zeit, eines der wenigen noch kaufbaren direkten One-Way-Flugtickets weg aus Berlin und Europa zu buchen, bevor Staat und Regierungen hier zunächst Infrastruktur und Ideeninitiativen vollständig vernichten und anschließend alles übernehmen. Das nämlich lenkt den Zustand dieses Landes hin zum Zustand wie bei der Deutschen Bahn: Verfall von Leistungsfähigkeit und gesellschaftlicher Infrastruktur.
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Über den Autor:
Quirin Graf Adelmann v.A. ist Mitglied im INTOURA e.V.