1. November 2021
Die neuen 20er-Jahre in Berlin
Wenn das Kind den Unterschied zwischen Staat und Gesellschaft verkennt
Wer schon einmal das Deutsche Auswandererhaus in Bremerhaven besucht hat, wird sich an eine gut geführte und spannende Ausstellung erinnern. Besucher bekommen dort am Eingang jeweils eine Figur zugeteilt, die tatsächlich gelebt und Deutschland verlassen hat. Die Geschichte zum Ende des 19. Jahrhunderts wird mit Menschen zum Leben erweckt, die aus wirtschaftlichen Gründen den Neuanfang in Nord-/Südamerika oder Australien unternommen haben oder in den 1930er-Jahren einfach politisch verfolgt wurden. Die Überfahrten waren anfänglich einige Monate lang, unbequem und kosteten viele Menschen das Leben. Dennoch fanden die Auswanderer bzw. Einwanderer bei ihrer Ankunft erstaunlich gut organisierte Empfangsabläufe vor – obwohl die Zahl der Einwanderer im Verhältnis zur Bestandsbevölkerung sehr hoch war. In den USA beispielsweise nahm die Gesamtbevölkerung zwischen 1870 und 1920 um den Faktor 2,5 zu. Eine organisatorische Meisterleistung würde man das heute nennen – ohne Digitalisierungsmöglichkeiten und als Willkommenskultur.
Schaut man sich die touristischen Hotspots an, liegt Miami mit einer Dichte (Anzahl Besucher im Verhältnis zur Einwohnerzahl) von 16,41 im globalen Vergleich vorne (Stand: 2019). Zahlreiche Städte sind weit vor Berlin, so zum Beispiel auch Dublin, München oder Dubai. Alle Flughäfen und Empfangseinrichtungen zeigen jeweilige Willkommenskulturen. Im Vergleich zu Miami hat Berlin weniger als 10% der Besucherdichte.
Wir Berliner haben uns fest vorgenommen, wichtige Menschen für die Zukunft der Stadt als unsere Gäste zum Essen einzuladen. Von diesen Menschen hängt die Weiterentwicklung der Stadt ab. Es sind Personen aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Sport. Sie sollen am über Jahrzehnte gebauten Multimilliarden-Flughafen BER ankommen und wieder abreisen. Es ist aber wie in jedem gastfreundlichen Lokal, jeder Sehenswürdigkeit oder bei jeder Dienstleistung: Empfang und Verabschiedung sind die wirklich wichtigen Momente, um zu beurteilen, ob etwas funktioniert oder nicht. Wer die Zeitungen des Monats Oktober gelesen hat, stellt fest, dass die katastrophalen organisatorischen (staatlichen) Abläufe im Flughafen als Siegel der Stadt herhalten müssen: Lange Schlangen und verpasste Flüge sind Standard am BER, man sollte zwischendurch fünf Stunden vor Abflug erscheinen. Da fliegt man besser gleich von Leipzig aus. So kommt es auch, dass man als Straßenbahnnutzer neuerdings langsamer durch Berlin fährt als mit dem Bus. Es ist hinsichtlich der Planung und Durchführung wie ein Spiel von Kindern, die auf dem Brett und in Theorie lernen sollen, was geht und was nicht. Kinder haben naturgemäß zwar keinerlei Qualifikation oder Erfahrung, aber was soll`s, immerhin wird es ein lustiges Spiel für Außenstehende. Folgen jetzt wieder ganze vier bis fünf Jahre lang dieser Belustigung?
Jüngst hatte eine junge Abgeordnete, aus deren Listen-Mitte immerhin die neuen Senator/innen entspringen, öffentlich das gesagt, was wohl viele Menschen – und leider gerade die Jungen – denken: sie wolle gar keine berufliche Erfahrung, sondern freue sich, Berufspolitikerin zu sein. Die Kinder also sollen uns Unternehmenden sagen, wie ein Unternehmen funktioniert, und unsere Gesellschaft formen? Dauerhafte Schlechtleistung bleibt dann wohl gesichert.
Die Wahlen zum neuen Abgeordnetenhaus sind vorüber – natürlich wie man es in Berlin kennt: hunderte Wahlbüros hatten nicht genügend oder die falschen Stimmzettel. Es ist nicht einfach, im Einwohnermelderegister nachzusehen, wie viele Wahlberechtigte im jeweiligen Bezirk bzw. Distrikt gemeldet sind und dann die entsprechende Stimmzettelanzahl bereitzuhalten. Der gleichzeitig stattfindende Termin zum Berlin-Marathon war wohl auch überraschend. Wirklich aufgeregt hat sich dennoch niemand. Es ist für Berlin normal, dass nichts funktioniert. Behördentermine dauern hier Wochen, ob für das Automobil oder für sich selbst. Der Staatsdilettantismus auf Dritte-Welt-Niveau ist hier tägliche Übung. Aber wen wundert es: seit Jahrzehnten schafft es die Politik nicht, die grundorganisatorischen Themen eines Miteinanderlebens und die hoheitlichen Kernaufgaben eines steuergeldfressenden Staates in Berlin zu bewältigen. Vielleicht ist es aber auch nur eine politische Strategie, möglichst weltweit dauerhaft belustigenden Content abzuspielen, damit Berlin immer im entsetzten Auge der Online Community im Gespräch bleibt und Schaulustige anzieht.
Die Außeneinwirkungen, die diese Stadt im kommenden Jahrzehnt zu bewältigen hat, sind allerdings von ganz neuer Qualität: der Zuzug von Menschen, die Explosion der Energiepreise, Mobilität, Wettbewerb zu anderen Städten etc. Und jetzt muss man sich doch einmal fragen, wie Gesellschaft und Staat hierauf reagieren:
Der Staat reagiert mit immer hanebücheneren Ausführungsvorschriften und immer langsamerer Verwaltung sowie einer rechtlichen Kontrolle durch Gerichte, die aufgrund langer Prozessdauer keinerlei inhaltliche Bedeutung mehr hat. Wer fünf Jahre auf ein Urteil wartet, gewöhnt sich an das Fehlen einer kontrollierenden Justiz. Das reale Leben geht schließlich weiter. Das eigentlich Irre ist nun aber nicht, dass politische „Entscheider“ selbst nicht qualifiziert oder kompetent sind und auch nicht, dass der politische Nachwuchs sich lieber in den Seilschaftssumpf der Fiktion statt in das real wirkende Leben stürzt, sondern dass der Staat selbst nun private GmbHs gründet, um seine Unternehmenden schleichend auszurotten. Der Grund dafür, dass Exekutive und Legislative überhaupt irgendwas gestalten dürfen, ist der, dass es Private gibt, die erfolgreich Ideen bearbeiten und von ihrem Erfolg etwas abgeben, um Verwaltung und Parlamente finanzieren. Warum also nur ist man mit den Privaten so streng? Oder mehr noch: Warum werden sie bekämpft?
VisitBerlin mit seinen Hunderten Mitarbeiter/innen beispielsweise soll für Berlin als Marketing-Gesellschaft der Stadt aktiv sein und für Berlin werben. Besucher sollen herkommen, ihr Geld hierlassen, Berlin beleben und manche vielleicht davon überzeugen, zu bleiben. Wir haben uns in der Vergangenheit darüber echauffiert, als die Marketing-Idee durch das Tourismus-Konzept 2018+ hin zum pädagogischen Arm der o.a. Kinder umgeschrieben wurde, um in der Stadt der Freiheit die Besucher/-innen schon am Abreiseort zu qualifizieren und deren Wege hier in Berlin zu bestimmen. Inzwischen verkauft VisitBerlin an den Hotspots Berlins im Wettbewerb zu den vielen Herstellern und Händlern selbst immer mehr Souvenirs – beispielsweise als Wettbewerber im Humboldt Forum. Marketing zu betreiben ist sinnvoll, weil jeder einzelne Lobbyverband der Tourismus-, Hotel- und Gastronomie-Unternehmen zu schwach ist, um die Arbeit des internationalen Marketings in ihrer Gänze zu erledigen. Die Besucher lassen hier Geld, die Unternehmen beschäftigen Menschen und entrichten Steuern, um u.a. dieses Marketing zu finanzieren. Das ist der richtige Kreislauf. Diesen Kreislauf zerstört man nun, wenn die Türsteher staatlich unfrei sind und nun selbst Teile der Einnahmequellen übernehmen. Dieses Staatskorsett vernichtet nicht nur die Freiheit, sondern formt unsere Gesellschaft um – nicht zum Guten.
Die besagten Kinder gehen aber in anderen Bereichen noch viel weiter. Man erinnere sich an die Stelen an den Hotspots, die nur für Einrichtungen „nicht-kommerzieller“ Art werben sollen – also für den Staat und staatlich Subventionierte. Man treibt also die Touristen weg von den Steuerzahlern hin zu den Steuermittelverbrauchern. Ist das logisch?
Die Kulturraum Berlin GmbH ist ein weiteres Beispiel dieses Irrsinns. Diese weitere Staats-GmbH soll Kulturräume für Musiker, Maler und andere Künstler schaffen. So weit, so gut. Wir brauchen unbedingt Kreative in dieser Stadt, und diese benötigen auch Schaffensorte, die nicht durch hohe Mieten vernichtet werden. Was macht also diese Staats-GmbH? Sie mietet für einen kurzfristigen Zeitraum von 10 Jahren fremdes Eigentum zu Ausgaben in Millionenhöhe an, statt in einer der vielen leerstehenden Landes-Immobilien Raum zu schaffen. Anschließend vermietet sie diese Räume wiederum unter; zeitlich befristet an professionelle Musiker für weniger als 1€/qm kalt zu absoluten Kaltmieten ab 15€/Raum/Monat. Man kann sagen, sie verschenkt die Räume. Kein(e) Musiker/-in braucht einen Raum zum Preis eines Abendessens. Natürlich versteht Berlin auch hier nicht, dass die Millionen Steuermittel dann für andere soziale Projekte oder Infrastruktur fehlen. Die Kinder wissen es nicht besser und denken, dass Papiergeld einfach (armutsfördernd) gedruckt werden kann. Schlimmer noch: Sie verschenken diese Räume genau gegenüber von zwei privaten Häusern, die seit Jahrzehnten zur vollsten Zufriedenheit mit niedrigen Mieten die gesellschaftliche Aufgabe der Platzsicherung für Kreative vollzogenen haben. Diese müssen aber im Wettbewerb zur Staats-GmbH die Umnutzung überlegen, weil sie nichts für weniger als 1€ finanzieren können – also auch nicht die eigenen Mitarbeiter*Innen. Als privates Unternehmen ist man außerdem gesetzlich zur Gewinnerzielung verpflichtet. Neu geplante Musikerhäuser werden auch nicht mehr umgesetzt im Wettbewerb mit dem Staat.
Wir haben uns daran gewöhnt, dass Berliner Politiker selbst dann Mathematik nicht können, wenn sie vorbereitet vor die Presse treten und meinen, dass 5.000 Euro Corona-Soforthilfe bei gut 170.000 steuerzahlenden Unternehmen in Berlin 100 Millionen Euro ergibt. Schlimm ist es, dass seit Jahrzehnten Vorschriften von der Legislative geschaffen werden, die das Unternehmertum ständig einschränken. Unerträglich ist inzwischen, dass die Judikative quasi wirkungslos geworden ist. Wenn es jetzt aber so weit geht, dass geistige Kinder Staats-GmbHs gründen und Wettbewerb zu privaten Initiativen schaffen, die wiederum Steuern zahlen und von Personen geführt und gestaltet werden, die die Tätigkeit gelernt haben und/oder sie auch durch Berufserfahrung einfach können, dann steht uns zusammen mit den Außeneinwirkungen auf Berlin eine Zeit bevor, vor der jeder Angst haben muss. Insbesondere junge Menschen werden vom Zugang zu Finanzierung ohne Ideologie abgeschnitten und müssen sich hoheitlichen Strukturen unterordnen und warten, bis sie aufgrund von Zugehörigkeit alt genug sind, selbst Verantwortung übernehmen zu dürfen.
Chancengleichheit in unserer Stadt beginnt aber mit der Ermöglichung für alle (gleich welcher Herkunft, Anschauung, Geschlechts und finanziellem Background), unternehmerisch tätig zu werden und unsere Gesellschaft zu formen und den Staat mitzufinanzieren. Wenn der Staat jetzt selbst und ohne Not Unternehmer spielt, dann ist es vorbei mit Chancengleichheit. Das erstickt jede neue Idee und lässt jede Geldquelle unternehmerischen Elans versiegen.
Über den Autor:
Quirin Graf Adelmann v.A. ist Geschäftsführender Gesellschafter der
Muson GmbH und Mitglied im INTOURA e.V.