November-Kolumne

2. November 2020

Ihre Majestät verspricht: Wir haben keine Mauererrichtungsabsicht

Ein Jahr des verlorenen Verstandes

Ein Virus bedroht einen kleinen Teil der Menschheit in Deutschland. Rund 10.000 unserer Mitbürger*innen sind bereits verstorben (jährlich sterben in Deutschland rund eine Million Menschen). Das ist aber noch nicht das Ende: der Prozess setzt sich in Richtung Katastrophe für alle Menschen fort. Den Menschen wird Angst gemacht. Eine Perspektive oder Strategie gibt es nicht. Bestenfalls entscheiden die Herrschaften der Exekutive aus dem Bauch heraus und nutzen ihren Verstand nur noch, um nachträglich Fehlentscheidungen zu begründen. Der November-Lockdown mag erforderlich sein, aber was dann?

Ein Rückblick

Vernünftig oder unvernünftig: noch am 24. Oktober war es in Berlin erlaubt, mit 5.000 Menschen gleichzeitig unter freiem Himmel zu feiern. Dennoch löste die (Bundes-)Polizei die mit nur 600 Besuchern unter Beachtung der Hygienevorschriften organisierte Pornceptual in der Alten Münze auf. Die Polizei hielt sich folglich offensichtlich nicht an geltendes Recht und machte sich außerdem über die Besucher auf Twitter lustig („unbefriedigender Abend“). Damit stellen sich im Rahmen der aktuellen Maßnahmenorgien gleich drei Fragen: Wie werden gesetzliche Vorgaben erlassen, hält sich auch die Staatsgewalt vorbildlich daran und sind diese materiell überhaupt richtig? Richtig oder falsch ist sicherlich im Nachhinein einfacher zu beurteilen, aber der Weg dorthin ist gleichwohl äußerst spannend.

Sind unsere Corona-Verordnungen etwa auch Notverordnungen nach der alten Reichsverfassung? Einen Gesetzgebungsnotstand haben wir nicht (Art. 68 GG), die Bundeskanzlerin ist im Amt. Also: ein Blick auf das Detail des Art. 80 GG zeigt, dass die Bundesregierung durch das Infektionsschutzgesetz (IfSG) nicht ermächtigt ist. Nur die Landesregierungen haben das Sagen. Die Bundeskanzlerin erklärte trotzdem die Sache zur Chefsache. Sie hat aber nicht den Bundesrat, sondern die Ministerpräsidenten der Länder zusammengetrommelt. Diese Versammlung ist kein verfassungsmäßiges Beschlussgremium, was beschließen sie dann also? Sie wollen sich quasi als Kartell offiziell verständigen, um in ihren eigenen Hoheitsbereichen sechzehn gleichlautende Verordnungen zu erlassen. Kartelle sind in unserem Land verboten.

Also: Was hier „befohlen“ werden soll, kann keine Bundesverordnung werden; die 16 Landesverordnungen sollen nur bundeseinheitlich werden und eine Ersatzbundesverordnung ergeben. Am 30. Juni 1934 wurde schon einmal so etwas wie ein „Staatsnotstand“ erklärt. Wer verordnet also?

Der 11. Monat wird eingeläutet

Der vorläufige Gipfel des Jahres 2020 war der 28. Oktober 2020: der NRW-Ministerpräsident erklärt den Gesamtdeutschen im Staatsfernsehen, dass die Verordnung verlässlich am 30. November aufgehoben werden solle. Man fragt sich sogleich, ob denn die anderen zeitlich begrenzten dutzenden Verordnungen zum Schutze gegen die Infektion jemals aufgehoben wurden. Tatsächlich ja! Mehrere Gerichte haben den pseudojuristischen Flickenteppich in Deutschland bereits als rechtswidrig abgestempelt: da waren das Übernachtungsverbot, die Demonstrationsverbote, die Sperrstunde, das Alkoholausschankverbot, die 800 Quadratmeter Flächenbegrenzung des Einzelhandels, das Verbot, Bars oder Fitness-Studios zu öffnen, sein Eigentum zu begehen, geliebte Menschen zu Hause oder im Freien zu treffen etc.. Die Begründung der Gerichte lautete: Fehler der Ermächtigung, Verletzung der verfassungsmäßigen Rechte, fehlende wissenschaftliche Nachweise zur Beziehung zwischen Maßnahme und Pandemiebekämpfung und Zuständigkeit der Parlamente.

Zwischenzeitlich zwang man der Gastronomie zahlreiche Hygienemaßnahmen und Verbundkosten auf, die jetzt das erhoffte Vertrauen in die Politik nicht wert sind, um ihre teuer eingerichteten Attraktionen geöffnet halten zu dürfen. Die Bundespolizei stürmt die Lokale zur Kontrolle, als hätten die Steuerzahler generalverdächtig maskenfrei oder abstandsverletzend Menschen körperlich zu nah gestanden und emotional zu offen bedient.

Umsetzungsrealität

Mit der Realität haben die Maßnahmen selbst nichts zu tun. Man musste beispielsweise taufrische Momentaufnahmen des eigenen Covid-19-Status nachweisen, sollte man in den Herbstferien ein Wochenende frische Küsten- oder Bergluft schnappen wollen. In Wirklichkeit gab und gibt es aber keine Ein- und Ausgangstests in der angemessenen Zeit. Die Nachverfolgung von Infizierten erfolgt mit Kugelschreiber und Faxgerät. Der Realität scheint die Politik sich ohnehin seit langem entfremdet zu haben. Man schickte Freischaffende nach dem Berufsverbot direkt zum Sozialamt, weil die auch hier versprochene Soforthilfe nicht für den Lebensunterhalt verwendet werden durfte.

In unserer Gesellschaft wird es bald den mittelständischen Unternehmer ebenso wenig wie Einzelunternehmer geben. Man sollte gespannt darauf sein, wer in Zukunft die Menschen durch intelligentes Schaffen und Engagement ernähren soll. Der Staat kann das bekanntlich nicht und scheint seinen Verstand endgültig verloren zu haben.

Auch wenn am 28. Oktober 2020 der ehemalige Bundesverfassungsgerichtspräsident Hans-Jürgen Papier im Info-Radio ebenfalls geäußert hat, dass die Verordnungen nicht rechtmäßig seien, weil nicht vorgesehen ist, die parlamentarische Demokratie so lange auszusetzen. Immerhin sind wir im elften Monat nach Infektionsbeginn. Aber das regt bei unseren Pressesprechern in der Politik niemanden auf. Im Gegenteil: ein Herr Lauterbach will neben dem Versammlungsverbot außerdem den verfassungsrechtlichen Schutz der eigenen Wohnung aufheben. Er will der Polizei erlauben, auch ohne Durchsuchungsbeschluss zu prüfen, ob sich in der jeweiligen Wohnung mehr als die zulässige Anzahl an Personen aufhalten. Wo bleibt also unsere Demokratie, wenn es um strukturelle Systementscheidungen geht?

Volkswille wird in 0,13 Minuten weggewischt

Der Bundestag hat 709 Abgeordnete, die das Volk vertreten sollen. Man diskutiert aktuell, ob die Hälfte der Abgeordneten nicht ausreiche – wenn man schon deren Zeit wegnehme, dann könnte man doch tatsächlich auch deren Kosten einsparen. Die Regierung mit ihrer autoritären Regierungserklärung vom 29. Oktober 2020 hat den Deutschen Abgeordneten des Bundestages durchschnittlich 0,13 Minuten Debattenzeit pro Person gestattet – nach dem Kartellbeschluss wohlgemerkt. Da wird das Grundgesetz in allen wesentlichen Bestimmungen ausgesetzt und die Exekutive erlaubt noch nicht einmal eine Debatte, die länger als 90 Minuten dauert. Monatelang wurde die zweite Welle als Dauertagesbeschallung angekündigt, gleichwohl aber nichts getan, um parallel das Gesundheitssystem zu stärken. Nur Masken wurden mehrere Milliarden gekauft, deren Lieferanten in großer Anzahl ihr staatlich versprochenes Entgelt nun einklagen müssen. Der sogenannte „Lockdown“ betrifft viele Millionen Menschen und die Exekutive als Vorbildeinrichtung, weil medial ständig sichtbar, gibt den Volksvertretern also 1,5 Stunden Anhörungszeit zur Entscheidung, inwieweit die verfassungsrechtlichen Rechte auszusetzen sind?

Vertrauen und Respekt muss der Maßstab sein, will man sich nach der Krise verzeihen können. Denn jedes Mal, wenn wir aufgefordert werden, der Demokratie unseres Landes Ausdruck zu verleihen und wählen zu gehen, stimmen wir für eine Partei, deren Programm entweder unseren Meinungen am nächsten kommt, oder wir stimmen gegen eine andere Meinung, um diese nicht zu stark werden zu lassen. Schlimm genug, dass die Wahlbeteiligung regelmäßig und gefährlich nah auf einen Wert sinkt, der dazu führt, dass nicht mehr die Mehrheit, sondern letztlich eine Minderheit der hier lebenden Menschen überproportional Gewicht bekommt. Nach einer Wahl aber haben wir andere Meinungen für die Länge der Legislaturperiode zu respektieren. Die zusammengesetzten Parlamente erlassen dann Gesetze. Nun ist aber genau dieser Respekt und das Vertrauen erschüttert, wenn die aus den Parlamenten bestimmten Regierungsmitglieder selbst Legislative spielen und rechtskräftige, kontrollierende Gerichtsurteile einfach missachtet werden. Jemand muss entscheiden; den vom Volk gewählten Vertretern in diesen schweren Verfassungseingriffszeiten aber noch nicht einmal eine angemessene Zeit zum Austausch der Argumente zu bieten, ist schlichtweg demokratiefeindlich.

Das Volk sollte doch inzwischen sehen dürfen, ob nun nach fast einem Jahr der Verordnungsorgienregierung inzwischen auch ein Plan für den Fall existiert, sollte das Virus Bestandteil unserer Gesellschaft bleiben. Werden deshalb Kunst- und Kulturfreiheit gänzlich aufgehoben? Immerhin könnten sich dann beispielsweise die Berliner Philharmoniker heute bereits auflösen und ins Private zurückziehen. Die Integration der Menschen – gerade nach den herausfordernden Zeiten des Zuzugs von Millionen Menschen seit 2015/2016 – ist der Grundpfeiler einer toleranten, leistungs- und zukunftsfähigen Gesellschaft. Es muss deshalb wenigstens einen öffentlichen und gemeinsamen Diskurs geben, um die Kehrseite der verhängten Ausgangssperre aufzuzeigen. Unsere Kultur und der Austausch von Meinungen mit Menschen anderen Geschlechts, Hautfarbe, Religion, Sexualität, politischer Gesinnung und Lebensweise ist der Sauerstoff unserer seit Jahrzehnten erfolgreichen Gesellschaft. Auch das Sportbetätigungsverbot entzieht der Gemeinschaft den geistigen Austausch, nimmt das körperlich legale Austoben und beeinträchtigt dadurch unmittelbar die Gesundheit und das Immunsystem der Menschen negativ.

Soll Deutschland das neue Detroit werden, in dem zunächst nur die Großen überleben und die Monopolisten dann verschwinden? Warum wir also all diese Kollateralschäden der seit März erlassenen Einsperr- und Isolationsanweisungen mit Zwang durch eine Staatspolizei ertragen müssen, muss erklärt werden. Wer sagt denn eigentlich, dass der/die Risikopatient*in sich sagen lassen will, welchem Risiko er/sie sich aussetzen darf? Dem Menschen, dem Unternehmer als auch dem Risikopatienten müssen die Möglichkeit gegeben werden, außerhalb ihrer eigenen Perspektive auch die andere Sichtweise zu sehen: gestoppte Integration, eingeschränkte Bildung, Armutsförderung, Auslöschen ganzer Wirtschaftszeige, die immerhin das Leben erst lebenswert machen – das muss allen bewusst sein. Es kommt folglich noch nicht einmal darauf an, welche Entscheidung am Ende steht, sondern wie der Umgang damit ist und welche Perspektive die Zukunft hat. Wo denn sonst als im Parlament können alle Argumente ausgetauscht werden?

In sozialen Netzwerken und Medien hat man heute oft nur blasenhaft Mainstream-Meinungen und Selbstdarsteller nach vorn gestellt, Protestler werden massenweise und systematisch als gebrandmarkt, wenn neben ihnen auch ein Neonazi demonstriert. Der Mensch neigt deshalb ausschließlich zur Lektüre bzw. zum Erfassen der eigenen Medienmeinung. Dem Nutzer werden automatisiert nur noch gleichgesinnte Meinungen auf seine Screens gegoogelt. Lesen und hören sollte man aber gerade auch andere Meinungen, die einem zunächst fremd erscheinen, um ihnen sachgerecht zu entgegnen oder sie wenigstens zu verstehen. Das Beschneiden der Anhörung ist also rein vom Anstand her ein inakzeptabler, respektloser Umgang mit allen Menschen der Gesellschaft, die zu weiten Teilen und über einen langen Zeitraum hinweg Maßnahmen dulden, obwohl sie anderer Meinung sind und in ihrer Existenz bedroht sind.

Das Geschenk des Gelddruckens

Zur Balance: Die Politik besticht gleichzeitig mit der Missachtung des Deutschen Grundrechts mit Geld, das dieses Mal am Umsatz des Vorjahres gemessen verteilt werden soll. Man will also die Leute kaufen oder wenigstens das eigene Denken und Handeln auf ein Minimum herunterfahren.

Man muss dabei wissen, dass diese Gelddruckgeschenke nicht etwa unser Land voranbringen und das Gesundheitssystem stärken, den Klimaschutz finanzieren, Infrastruktur schaffen, die Energiewende einleiten oder gar die Bildung fördern wird. Nein, die Verarmung der Gemeinschaft wird vorangetrieben. Gelddruck führt direkt zur Verarmung der Mehrheit der Menschen unserer Gesellschaften. Nicht Covid-19 verbrennt hiesiges Geld, sondern die politisch entschiedenen Maßnahmen, deren Gelddruckaufwendungen irgendwann zurückzuzahlen sind: nämlich von allen in der Gesellschaft und damit auch von der Hälfte der Bevölkerung, der aber nur 17% des Gesamtvermögens gehören. 150 Millionen Kinder sind allein in diesem Jahr zusätzlich verarmt und 150.000 Kinder stehen neu vor dem Hungertod (weltweit). Schaut man sich Teile der Erde wie beispielsweise Madagaskar an, wo Menschen von Export und Tourismus leben und ein nicht unwesentlicher Teil Tagelöhner sind, die nun nicht nur verarmen, sondern verhungern, muss man auch hier darüber nachdenken, welche Auswirkungen regionale Lockdowns auf andere Teile der Welt haben. Armut tötet weit mehr Menschen als Covid19, auch wenn das die Feinde von Zahlen nicht hören und vergleichen wollen. Was kommt nun noch?

Freiheit gegen Geld

Erinnern wir uns noch an den 3. Oktober 2020, den neuen Kulturgedenktag in Berlin? Er sollte als unterdrückter Abgesang der Clubkultur diejenigen mit Preisgeld auszeichnen, die sich pädagogisch zuverlässig an die Hygienevorschriften halten und sich vorbestimmten Inhalten konzeptionell hingeben. Der Senat gibt also gegen Geld vor und zeichnet aus, wer sich inhaltlich in der Kunst- und Kulturszene an die staatlichen Vorgaben hält? Freiheit der Kunst? Mit solchen Maßnahmen will man also eventuelle Reaktionen gegen die staatlichen Übergriffe durch Finanzmittelabhängigkeit ruhigstellen und gleichzeitig eine einheitliche Gesinnung züchten. Die knapp 200 Clubs in Berlin haben es sodann gar nicht erst gewagt, gegen ihre Berufsverbote zu klagen.

Worauf soll man sich also verlassen, wenn nun wieder alles heruntergefahren wird von Leuten, die zum einen persönlich nicht betroffen sind und zum anderen ihre politische Position weder einer Ausbildung noch Berufserfahrung verdanken? Unsere Ministerinnen und Minister sind längst nicht mehr Experten ihres Fachs. Weder unser Bundesgesundheitsminister noch die Berliner Gesundheitssenatorin haben eine medizinische Ausbildung oder Berufserfahrung. Wie ist es mit den übrigen Minister*innen und Senator*innen? Inzwischen schreit sogar die Ärztekammer auf, dass die erneuten Maßnahmen nicht auf einen mittelfristigen Plan hinauslaufen.

Das Vertrauen in unsere Politiker ist jedenfalls bei vielen erloschen. Jedes einzelne Versprechen bis hin zu finanziellen Unterstützungsleistungen ist meist nicht gehalten worden.

Opposition auf Tauchstation

Und wohin hat sich die Opposition abgeduckt? Hören kann man sie derzeit auch nicht medial. Geschimpft wurde in den letzten Jahren immer auf die Diktatoren dieser Welt oder auf solche, die man für solche hält, weil sie exekutiv regieren, ohne die Parlamente zu beteiligen: Trump, Putin, Erdogan, Bolsonaro. In Deutschland erlässt die Exekutive nicht nur die Gesetze ohne Beteiligung der legislativen Gewalt, sondern missachtet sogar die Judikative: es kümmerte niemanden, dass mehrere Gerichte die Sperrstunde, Reiseverbote oder die Übernachtungsverbote aufgehoben haben.

Warten auf das nächste Versprechen

Verlässliche Aussagen gibt es nicht. Man darf ebenso auf den 1. Dezember 2020 gespannt sein. Staatsbetriebe waren schon in der Vergangenheit nicht erfolgreich. Vielleicht sollten nunmehr Menschen auf die verantwortlichen Stellen, die ausgebildet oder berufserfahren sind und weiter als einen Monat denken oder wenigstens parallel Strukturmaßnahmen umsetzen und nicht mehr nur über den Schutz des Gesundheitssystems reden. Was wird aus 2021? Und die entscheidende Frage lautet:

Wann werden die gut 18.000 Mitarbeiter der Bundesregierung mitteilen, was passiert, wenn Covid-19 Teil der Gesellschaft wird? Was dann?

Über den Autor: 

Quirin Graf Adelmann ist in Frankreich aufgewachsen und ist seit 1993 in Berlin mit verschiedenen Unternehmungen aktiv. Dazu gehören bedeutende Kunst- und Kulturaktivitäten, Musikerhäuser, Ausstellungen wie aber auch einige Impact-Engagements in Start-Ups im Bereich der Mobilität, Umweltschutz & Digitalisierung.