Dezember-Kolumne

1. Dezember 2021

Berlin 2021: Ein Wintermärchen

Oder: Die Schlüsselübergabe an den Staat

In jedem Jahr sind November bis März die Monate niedriger Besucherzahlen in touristisch attraktiven und gut erreichbaren Städten. Die Besuche von Menschen fallen um bis zu 80% ab, auch die Besuche von Attraktionen, Restaurants oder Sehenswürdigkeiten. Berlin hat im Gegensatz zu anderen Städten in den letzten 15 Jahren zusätzliche Aktionsfelder erschlossen: erstklassige Sportvereine, große Neubauten für Kunst und Kultur, die Professionalisierung der Gastronomie und der Unternehmen und eine zunehmend internationale, junge Bevölkerung sind ein weiteres „Plus“.

Der Status in Berlin

Der Berliner ist folglich verwöhnt. Das hat auch Tradition: in den 1920er-Jahren herrschte hier die Freiheit einer aufstrebenden Industriestadt mit vier Millionen Einwohnern. Trotz einiger sozialer Probleme vibrierte die Stadt vor Vitalität. Nach dem Ende des zweiten Weltkrieges entstand ein subventioniertes Berlin auf seinem „Bein West“ und dem „Bein Ost“. Man musste sich nicht sehr weit vom Sofa erheben, um Kunst, Kultur oder Sport zu erleben. Deshalb kam mit der hohen Arbeitslosigkeit in den 1990er-Jahren eine gewisse Gleichgültigkeit auf. Fußball, mehrere Opernhäuser bis hin zu hunderten Clubs sorgten für innerstädtischen Spontan-Tourismus. Handball, Volleyball, Eishockey und natürlich Basketball boten in 2.000 Sportvereinen (heute 2.500) so viele Möglichkeiten des Vergnügens, dass echte Zweitklassigkeit für den Berliner gar nicht in Frage kam, war man nicht eingefleischter Fan. Inzwischen ist gut die Hälfte der Berliner Bevölkerung durch den demografischen Wandel ausgetauscht.

Was haben wir also heute? 147 Museen und 391 Ausstellungen boten sich 2019 feil. Gute 14.000 gute Menschen lebten hier gut von Musik, organisiert von fast 250 Clubs und 10 Orchestern und zwei Konzerthäusern sowie 1.450 Musikunternehmen. Bei rund 10.000 Restaurants hat man eine opulente Auswahl. Viele rein vegane Restaurants, vorwiegend in Prenzlauer Berg und in Friedrichshain, haben inzwischen Konjunktur.

Noch nie waren so viele junge Studierende (200.000) in Berlin gemeldet. Sie drücken das Durchschnittsalter in dieser Stadt auf 42 Jahre herab.

Konstanter Gründerverfall

Und wie ist es heute? Wer lebt noch in Berlin mit der Idee, etwas Positives hinzuzufügen? Schauen wir uns die Gründerzahlen an: sie haben sich in Deutschland in den vergangenen 15 Jahren fast halbiert. Die Quote liegt bei nur 1%, die meisten Gründer sind männlich. Die meisten Gewerbeanmeldungen fallen auf den Bezirk Mitte (gut 15%). Auch in Berlin ist die Anzahl der Neugründungen auf dem niedrigsten Stand seit 2010 – trotz der Anziehungskraft von Berlin auf viele Start-Ups. Dabei ist Berlin wohl die einzige Hauptstadt Europas, wo sich das Hauptstadt-Privileg negativ auf das BIP-pro-Kopf auswirkt.

Wie kann das sein? Warum also gründen immer weniger Menschen in Deutschland als Motoren der gesellschaftlichen Entwicklung ein Unternehmen? Weshalb besuchen immer weniger Berliner die Sehenswürdigkeiten Berlins, obwohl immer mehr Menschen in Berlin leben?

Politiker im Abseits

Schauen wir uns zuallererst die Politiker an, die unseren Stadtstaat lenken sollen: Es reicht zur Qualifizierung als Politiker in Berlin aus, Politologie oder Philosophie studiert zu haben und trotz fehlender fachlicher Berufserfahrung, dennoch als Senatsmitglied eine fast vier Millionen Einwohner zählende Stadt zu lenken. Das ist so, als würde man sich als Gastronom bezeichnen, weil man ab und an in einem Restaurant zu speisen pflegt. Der Start der ampeligen Bundeskoalition vor wenigen Tagen lässt zwar bereits an den Personalentscheidungen der Parteien zweifeln, aber auch unsere Parteien haben immer Recht, wenn sie einen fachgebietlich qualifizierten Biologen für einen Soziologen als Bundesagrarminister zurücksetzen. Auch viele Senatoren sind nicht erste Wahl hinsichtlich Qualifikation. Gemeinsam mit dem Wähler erwerben sie sowohl Berufs-, als auch Erfahrungen in ihrem Verantwortungsbereich. Farbe geht vor Inhalt. Mit nur jeweils fünf Jahren Lern- und Übungszeit wird es deshalb schwer, in dieser Stadt im Rahmen der Naturgesetze und Realitäten etwas zu schaffen. Leichter ist es, etwas zu verhindern. Also: wie „gestaltet“ die Politik den Lauf der nächsten 5 Jahre? Wie motiviert man zu Aktivitäten? In Berlin hat man nur einen Verbotskatalog. Frei nach der aktuellen Parole: „Verbote führen zu Innovation“. Logischerweise nur zu Innovationen auf Umwegen.

Verbotsmanagement

Das ist allerdings etwas ganz Neues. Die pädagogische Berliner Verbotspolitik denkt sich zunächst allerlei Ablenkungspreise aus, um zu dissimulieren, dass Unternehmen im Rahmen der Politik-Vorstellungen einer ideellen, realitätsfernen Politik unterworfen werden sollen. Dazu werden Ehrenpreise, Bezirkstaler, Bürgermedaillen, Preise für Demokratie und Zivilcourage, Frauenpreise, Demokratieverdienstkreuze, Inklusionspreise, Integrationspreise, Unternehmerpreise, Kulturpreise usw. gestiftet. Zusätzlich werden in Krisen wie der aktuellen beispielsweise Clubs durch Geld(druck)zahlungen ruhiggestellt. Und dennoch:

Auf dem Parkplatz vor dem Schloss Charlottenburg ist wegen des Berliner Alkoholverbots auf Grünflächen kein Weihnachtsmarkt aufgebaut worden. Weil die Fahrrad-Infrastruktur der Stadt nicht gefährdet werden darf, ist grundsätzlich auch jede Veranstaltung auf dem Nollendorfplatz vor dem Metropol-Theater verboten worden: dort befinden sich empfindliche E-Bike-Ladestationen. Aber wie können nun diese Verbote umgangen werden und zu Kreativität führen? Die Verbote sind so zahlreich und lassen trotzdem weder einen inneren Zusammenhang noch einen Gesamtkontext des Verbotswesens erkennen. Die Summe aller Verbote erlaubt nicht einmal Rückschlüsse auf künftige Verbotspläne des Landes. Man kann ihnen nicht einmal gehorsam vorauseilen als Unternehmer. Man entdeckt zu den Verboten zunehmend viele kollaterale oder „Neben“-Wirkungen, die seitens der Verbietenden gar nicht beabsichtigt gewesen sein müssen: Tätigkeitsverbote für ganze Branchenzweige, Verbote der Beschäftigung von Ungeimpften, Zugangsverbote trotz nachgewiesener (getesteter) Gesundheit, und – was man nicht zu glauben wagt – stundenlange Wartezeiten bei den Kindernotaufnahmen der staatlichen Krankenhäuser (nicht Covid19-bedingt) sowie die Erstürmung von ausnahmsweise erlaubten Veranstaltungen, die das Zeitlimit um mehr als eine Minute überschreiten.

Berliner Angebot

Obwohl das Berliner Angebot nach wie vor hoch ist, erfreuen sich gut 65% der Einrichtungen mit weniger als 100 Gästen am Tag. Nur 40% der Club-Besucher gehen öfter als einmal im Monat in einen Club. Wer an einem Montag morgen durch Friedrichshain joggt (und zwar angefangen mit dem RAW-Gelände, das gut 500 Meter lang ist, über das Berghain zum Ostbahnhof an der East Side Gallery über die Oberbaumbrücke am Wrangelkiez vorbei und am Treptower Park zurück über die Elsenbrücke an den Clubs des Osthafens vorbei), sieht dort immer noch Leben und Bewegung. Meist sprechen die Schwärmer spanisch, englisch oder französisch – kein Wunder. Fast eine halbe Million Bewohner Berlins sind Europäer anderer Länder. Wenn uns unsere internationalen Stadtbewohner noch am Leben halten, wie aktivieren wir nun die „Alt-Berliner“ für die Sehenswürdigkeiten der Stadt? Das wäre doch eine Winter-Herausforderung, sofern nicht entgegen dem Versprechen vor der Wahl abermals ein hilfloser Lockdown erzwungen wird. Schließlich hat es die Exekutive im Sommer routinemäßig versäumt, die Bevölkerung vor der Ansteckungsgefahr im Winter zu schützen. Außerdem hat man es unterlassen, in den letzten zwei Jahre die Krankenhaus-Infrastruktur zu verbessern. Hier regiert eine Diplom-Mathematikerin das Gesundheitsresort. Aktuell ist ihre Corona-Politik auf bürgerkriegsnahe Zustände ausgerichtet. Aber was dann?

Spirituelles Flair

Ist Berlin auch in der kalten Jahreszeit eine Reise wert? Ja, wenn man weiß, was man machen kann, dann „ja“. Wannsee ist beispielsweise zu kalt für manche, die es heiß mögen. Alles hat inzwischen auch etwas spirituelles Flair der 1920er-Jahre bekommen, wo es in Amerika die Prohibition gab. Illegale Spielhöllen von Al Capone müssen damals trotz staatlicher Verbote ein gutes Geschäft gewesen sein. Und nun Prohibition von coronisierten Treffen: Konspiration macht das Clubleben heißer. Im vorderen Raum nur geimpfte Gangster im Anzug mit Maske und auf Abstand, im hinteren Raum hinter schallsicheren Türen heiße Rhythmen für das lustige Volk. Wirklich, für die Zürcher Jugend ist Berlin eine Reise wert. Zürich gilt nur als halb so lustig wie der Wiener Zentralfriedhof.

Berlin ist wegen des Ernstes seiner „Alt-Bevölkerung“ nie eine Hochburg des Karnevals oder des Faschings geworden (sagt man so). Nur kommt aber darauf an, wie man die närrische Zeit definiert. Für den unkundigen Berliner sind Fasching und Karneval Jacke wie Hose. Aber zwischen Fasching und Karneval gibt es Unterschiede: In München (Fasching) findet „normal“ jeden Abend ein Ball statt, von „Der Amtsschimmel tanzt“ (Behörden- und Beamtenball) bis zu den berühmten Künstlerfesten. Das alles ist heute von Söder verboten. Warum: Katastrophenalarm, denn der Typ ist Franke (Beute-Bayer) und Protestant. Es könnten also auch Bayern aus Altbayern Berlin dank fränkischer Verbote entdecken. Maskierung ist Ehrensache, wenigstens Piratenlook mit Augenklappe. Die Cluböffnung orientiert sich an den Ankunftszeiten der Fernzüge. Was Berlin nicht offiziell haben muss, ist das sogenannte Faschingsprinzenpaar. Aber das hat Berlin immer: Bei uns in Berlin ist auf politischer Ebene immer Fasching.

Unterstellt, die Berliner Wahlen vom September 2021 (oder war es 1921?) seien doch gültig, wäre unsere Faschingsprinzessin Franziska I. und unsere Faschingskaiserin, Angela die Aufmerkelige, ein nur für die Faschingszeit geeintes Paar. Was diese in ihren Rollen nicht so alles anordnen: Masken im Freien. Natürlich: Der Karneval von Venedig hat es auch so. Gruppensex? Natürlich nicht. In welchen Haushalten leben heute noch ganze Gruppen zusammen? G3: Wunderbar! Das, was Berlin wirklich fehlt, ist nicht nur ein funktionierender Flughafen, sondern eine Technik, die die Holländer schon haben: dass man nach 20.00 Uhr zum Beginn der Tagesschau und zur politischen Befehlsausgabe für den morgigen Tag auch die Bürgersteige hochklappen kann.

Staatlich vergütete Freizeit

Der Berliner müsste doch sehr viel Zeit haben. Noch nie war die Anzahl öffentlich Bediensteter in Berlin so hoch (knapp 300.000 Beschäftigte) wie heute. Trotzdem leben 90% der Berliner in einer zivilen Parallelwelt. Diese Parallelwelterfahrung lässt alle über den Zeitablauf klagen. Wenn man sich als Gründer persönlich mit Wohnsitz anmelden möchte (zwei Monate), ein Transportmittel zulassen will (sieben Wochen), ein gegründetes Unternehmen registrieren und mit Steuernummer versehen lassen will (zehn Wochen), einen Gründerbonus oder ein Fördermittel ausgezahlt bekommen möchte (bis zu einem Jahr) oder gar bauen will (ein Jahr Bearbeitungszeit). Aber was macht der öffentlich Bedienstete nur mit seiner vielen Zeit?

Bis zu 101 Fehl(arbeits-)tage haben beispielsweise Ordnungshüter aus Berlin-Charlottenburg. Für die fast 35.000 Lehrer in Berlin sind durchschnittlich 96 Tage frei (Ferien + Krankheit), wobei sie nur 18,5 Arbeitsstunden pro Woche zu leisten gehabt hätten; bei einem Einstiegsgehalt von über 5.000€/Monat liegt man schon bei mehr als dem Doppelten eines Polizisten oder Krankenpflegers. Kindergärten haben 23 (!) Sonderschließtage pro Jahr. Dennoch bleiben die Berliner*innen zuhause und die übrigen jungen Berliner gründen immer weniger Unternehmen. Man stelle sich vor, was passiert, wenn niemand mehr ein Restaurant betreiben oder eine Ausstellung eröffnen will. Wer trägt dann künftig zur Finanzierung des Apparates bei, der unsere Gesellschaft lenkt?

Direkte Kompetenzträger

Es braucht also direkte Lenkungen der Unternehmer selbst. Entweder man lässt Verbände wie INTOURA mitreden, um nah am Boden der Realität Entscheidungen abzuwägen, oder man steuert einfach ideell weiter wie bisher an den Themen vorbei (siehe Tourismuskonzept 2018+). Der Runde Tisch Tourismus, staatlich organisiert, hat nur Stühle für den Schlaf-Verband Dehoga und andere staatliche GmbHs und öffentliche Einrichtungen aufgestellt. Sie schauen den Unternehmern zu. Dazu könnten gut die Hälfte aller Vorschriften schlichtweg gestrichen werden. Verschiedene Polizeibehörden könnten nach erfolgreicher Digitalisierung abgeschafft werden. Ohne Fremdbestimmung durch die unqualifizierte, inkompetente und oft nur imaginäre politische Exekutive wäre die Motivation zur Gründung wirtschaftlicher Unternehmen erleichtert. Natürlich bedarf es eines verlässlichen Entscheidungsdrucks. Dass das Land Berlin nach dem Volksentscheid zur Enteignung von Wohneigentum weitere Jahre abwarten will, hemmt kollateral auch so manche Instand- und Investitionsplanung. Auch sich ständig ändernde Fahrradstraßen-Ideen wie in der Friedrichstraße führen dazu, dass niemand eine Einzelhandelsfläche gestalten will, wenn er oder sie nicht abschätzen kann, wer die Straße überhaupt und wie nutzen darf. Was für Unternehmer eine Frage der Logik ist, interessiert die Politik und Verwaltung nicht mal am Rande. Auch die rein rechtliche Überprüfung administrativen Handelns oder von zivilrechtlicher Streitigkeit ist bedenklich geworden: jahrelange Prozesse sind hierzulande nicht selten; sehr viele Prozesse dauern schon in der ersten Instanz bereits mehr als 36 Monate. Das Gute an Berlin ist also, dass es sehr viel Potential hat bei so viel gepflegtem und faktischem Dilettantismus.

Konzentration auf Big Points

Will man außerdem so etwas wie Chancengleichheit als seriöse Komponente schaffen, muss die Infrastruktur für Frauen (Kinderbetreuung) und die für Flüchtlinge (kostenfreie Bildung) hergestellt werden. Vielleicht konzentriert sich die Politik besser ein Jahrzehnt lang ausschließlich auf die Big Points der Herausforderungen anstatt auf Preisverleihungen und kleinteilige Minderheitenforderungen. Dazu gehört die Erreichbarkeit jedes Ortes in Berlin und dem Speckgürtel mit öffentlichen Verkehrsmitteln, die Schaffung von Wohnraum auf den Millionen Quadratmetern öffentlichen Baulands, die Energieinfrastruktur für Sonne und Wind und letztlich auch, dass Gerichte innerhalb kurzer Fristen Streitfragen entscheiden müssen und hierzu auch in die Lage versetzt werden. Nicht die Regulierung der privaten Initiativen und Initiatoren darf Schwerpunkt sein, sondern die Entschlackung des Staates und die Konzentration auf behördliche und gesellschaftliche Infrastruktur. Solange ein Staat seine steuerfinanzierten Infrastrukturaufgaben nicht im Griff hat, darf er einer Gesellschaft den Nährboden nicht durch Regulation entziehen.

Holt also Kompetenz in die Entscheider-Ebenen – das Know-how ist da, die Motivation und der Zugang fehlen. Schauen wir deshalb, ob die neuen Koalitionen denjenigen die Wege freiräumen, etwas zu tun, oder ob wieder nur denjenigen Raum gegeben wird, anderen zu sagen, was sie tun sollen. Dann bleibt Berlin nämlich ein dauerhaftes Karnevalstheater ohne zahlendes Publikum.


Über den Autor: 

Quirin Graf Adelmann v.A. ist Geschäftsführender Gesellschafter der
Muson GmbH und Mitglied im INTOURA e.V.