April-Kolumne 2021

01. April 2021

Ein Maskenball

Als ich im Jahr 1976 als Freigekaufter aus der DDR in die Bundesrepublik kam, brachte ich den festen Vorsatz mit, noch einmal zur Schule zu gehen und das Abitur zu erwerben. Fast genau ein Jahr danach stand ich, fast einundzwanzigjährig und mit Vollbart, vor dem Sophie-Scholl-Gymnasium in Berlin-Schöneberg. Meine Mitschüler in der 11. Klasse, in die ich eingeschult worden war, hielten mich anfangs für einen Referendar und fremdelten. Erst der extensive gemeinsame Besuch der Raucherecke machte ihnen klar: Wir sitzen in einem Boot.

Warum erzähle ich das? Es war meine Entscheidung, das Gymnasium zu besuchen. Ich wollte lernen. Und ich wollte „den Westen“ kennenlernen. In den Schulen, den Kasernen und den Gefängnissen eines Staates erfährt man viel über das vorherrschende Menschenbild. Unsere Lehrer, ältere und jüngere, waren redlich bemüht, uns eines Tages zu Recht das Zeugnis der allgemeinen Hochschulreife in die Hände zu drücken. Sie ermutigten uns, Sachverhalte aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten. Wir lernten, uns selbständig auf die Suche nach Informationen zu machen und die gefundenen Quellen kritisch zu bewerten. Und wir erlebten den kommunikativen Wert verbindlicher Fachsprachen. Das alles war vor über vierzig Jahren. Heute stehe ich verständnislos vor der gegenwärtigen Lage in Deutschland. Wie viele Menschen hatten, wie ich, gelernt, sich frei zu informieren, kritisch zu urteilen und offen eine Meinung zu vertreten?

Wahrscheinlich stünde in der Stellenbeschreibung für Politiker, wenn es sie gäbe, daß unbedingt dazu gehört, es gegebenenfalls mit der Wahrheit nicht so genau zu nehmen. Das weiß jeder. Und wir, die wir das wissen, dürften Politiker damit nicht durchkommen lassen. Derzeit jedoch kommen sie damit ungeschoren davon. Ob es überhaupt begründet ist, von einer Covid-19-Pandemie zu sprechen, kann kaum überprüft werden. Eine Pandemie ist die weltweite starke Ausbreitung einer Infektionskrankheit mit hohen Erkrankungszahlen. Doch der Öffentlichkeit wird lediglich die Anzahl der Personen mitgeteilt, bei denen markante Teile des Covid-19-Erbguts auf der Schleimhaut gefunden wurden. Ob diese Menschen überhaupt infiziert oder gar erkrankt waren, erfahren wir nicht. Es wird regelmäßig mit einer Zahl operiert, die von Politik und Medien Inzidenzwert genannt wird. Das ist falsch. Erstens soll der wissenschaftlich definierte Inzidenzwert Neuerkrankungen in einer festgelegten Zeitspanne in derselben Personengruppe messen. Dazu müßte man also regelmäßig dieselben Menschen untersuchen. Zweitens gibt die in der Öffentlichkeit verwendete Zahl nicht, wie in der Wissenschaft gefordert, die Zahl der Neuerkrankten an, sondern die Anzahl positiv Getesteter. Wie viele davon überhaupt Symptome zeigen, erfährt man nicht. Die von Politik und Medien verwendeten Zahlen sind zufällig zustande gekommene, ausschließlich politische Zahlen und haben nichts mit Wissenschaft zu tun.

Und die auf diese Unwahrheiten gegründete Politik ist ein Desaster. Seit über einem Jahr fällt der Kanzlerin und den Ministerpräsidenten nichts anderes ein als Lockdown, obwohl schon früh sichtbar wurde, daß Lockdowns keine Auswirkungen auf das Infektionsgeschehen haben. Da, wo nur auf die erfundenen Zahlen gestarrt wird, geraten die immensen Kollateralschäden aus dem Blick. Wer den Infektionsschutz als einziges Ziel verfolgt und deshalb die Wirtschaft und die Kultur des ganzen Landes weitgehend lahmlegt, wird am Ende weit größere Schäden angerichtet haben, als sie durch mehr Infektionen entstanden wären. Und es ist noch viel schlimmer. Die politisch Verantwortlichen haben das vergangene Jahr verstreichen lassen, ohne auf der Grundlage des ständig wachsenden Wissens über Covid-19 treffgenaue Maßnahmen gegen das Virus zu entwickeln. Es ist versäumt worden, alle nur denkbaren Informationen über Infizierte und Erkrankte zusammenzutragen, mit deren Hilfe Risikogruppen hätten definiert und Infektionswege hätten erkannt werden können. Anstatt neue Testkonzepte zu entwickeln, streiten sich die Kanzlerin und die Ministerpräsidenten darüber, ob Mecklenburger in Mecklenburg Urlaub machen dürfen. Massenhafte Selbsttests wurden nicht in Gesundheitsämtern oder Arztpraxen verteilt, sondern preisgünstig bei Aldi verkauft. Die Corona-App schützt zwar halbwegs verläßlich persönliche Daten, hat aber ansonsten kaum praktischen Nutzen. Was bleibt von der behaupteten Notlage auf den Intensivstationen, wenn man weiß, daß im letzten Jahr aus rund 28.000 Intensivbetten in deutschen Krankenhäusern bis heute etwa 24.000 geworden sind? Sind die Betten abgebaut worden? Oder sind sie stillgelegt wegen Personalmangels? Und wer sich impfen lassen möchte, scheitert häufig an den Folgen der dilettantischen Bestellpolitik.

Die „Coronapandemie“ scheint also weniger medizinische oder gesundheitspolitische Gründe zu haben. Sie ist in erster Linie das schlimmste Regierungsversagen und die schwerste Verfassungskrise der Bundesrepublik Deutschland seit 1949.

Auf Grund erfundener Zahlen, Lügen und eklatanter Fehleinschätzungen sind den Menschen in Deutschland und der deutschen Wirtschaft schwerste Schäden zugefügt worden. Warum, so kehre ich zum Anfang meiner Überlegungen zurück, regt sich gegen diese Politik nicht massenhafter Widerstand? Viele kennen das, wahrscheinlich fälschlich, Winston Churchill zugeschriebene Zitat: „Ich glaube nur der Statistik, die ich selbst gefälscht habe.“ Jeder kann sich die notwendigen Informationen auf vertrauenswürdigen Webseiten ergoogeln und mit Hilfe seines in der Schule erworbenen Wissens verarbeiten. Vielleicht tun das viele, halten sich aber trotzdem bedeckt? Dann hätte das Schweigen politische Gründe. Alexander Issajewitsch Solschenizyn, einer der schärfsten Kritiker des Sowjetregimes und früherer GULAG-Häftling, schrieb über kommunistische Führer einmal: „Wir wissen, sie lügen. Sie wissen, sie lügen. Sie wissen, daß wir wissen, sie lügen. Wir wissen, daß sie wissen, daß wir wissen, sie lügen. Und trotzdem lügen sie weiter.“ Die guten, freien Zeiten sind vorbei. Nur am Erhalt der eigenen Macht interessierte Politiker haben das Ruder übernommen. Sie erzeugen eine Atmosphäre der Angst, in der sich die meisten Menschen abducken und anpassen. Kritiker sind nicht mehr, wie früher, einfach nur Kritiker, sondern gefährliche Leugner und Verschwörungstheoretiker (übrigens eine in der Desinformationsabteilung der CIA erfundene Bezeichnung). Die daraus erwachsende Spaltung der Gesellschaft in Gute und Böse war in der Geschichte viel zu oft der Beginn totalitärer Herrschaft. Um dieser Gefahr zu begegnen, müssen wir uns von der Angst befreien. Verteidigen wir unsere wirtschaftliche Existenz und unser Leben gegen die Zerstörung.

Über den Autor:

Jörg Drieselmann ist seit 1992 Geschäftsführer im Stasimuseum Berlin (ASTAK e.V.), ehemaliger DDR-Bürgerrechtler und Träger des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland.